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300 Meter „Silberstoff“ für die Aula
Anni Albers' Bauhaus-Diplomarbeit für Bernau

Als Hannes Meyer und Hans Wittwer 1928 die Bundesschule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) planten, stand für sie bereits fest, dass sie dieses Gebäude grundlegend von innen (die Bedürfnisse der Menschen, die das Gebäude nutzen sollten) nach außen (der sich aus diesen Bedürfnissen ergebende Grundriss) planen würden. Auch dass hieran alle Bauhaus-Werkstätten beteiligt sein sollten, war von Anfang an gesetzt – von der Bauabteilung bis zur Ausbauwerkstatt mit Tischlerei, Metallwerkstatt und Weberei: Alle sollten gemeinsam an diesem Projekt arbeiten. Hier würden die Studierenden ihre theoretischen Fähigkeiten vertiefen und direkt am Bau in die Praxis umsetzen können.


Als der Rohbau stand und die quadratische und über den eingeschossigen Kopfbau herausragende Aula in ihren Grundfesten errichtet war, erkannten Meyer und Wittwer ein elementares Problem dieses Raums: Es schallte hier ganz furchtbar, und es war absehbar, dass die Geräusche aus dem direkt anschließenden Speisesaal wohl ebenfalls zu Schwierigkeiten führen könnten. Der Ursprung der schlechten Akustik liegt in der Form der Aula, einem Würfel, der an allen Seiten gleichlang (knapp vierzehn Meter) ist. Der sich ergebende Effekt kann wie ein Schall-Pingpongspiel beschrieben werden. Auch heute kann man dieses Phänomen in der rekonstruierten Aula der Bundesschule wahrnehmen: Klatscht man in die Hände, hallt der Schall an den Wänden wider und kehrt mehrfach zum Hörer zurück. Gerade bei Veranstaltungen ist das natürlich wenig wünschenswert. Hinzu kam noch, dass die Architekten nur ein Fensterband, auf nur einer Seite der Aula, knapp unterhalb der Decke geplant hatten. Die Lichteinstrahlung von außen war also eher einseitig, wenn auch ausreichend für die Zwecke der Aula. Um dem unerwünschten Schalleffekt entgegenzuwirken und das Licht im gesamten Raum optimal zu verteilen, musste also ein Material gefunden werden, das beide Anforderungen würde erfüllen können. Doch ein Material mit diesen Eigenschaften existierte im Jahr 1929 noch nicht. So beauftragte das Bauhaus kurzerhand eine seiner besten Weberinnen damit, im Zuge ihrer Diplomarbeit einen entsprechenden Stoff für die Aula der Bundesschule zu entwickeln. Eben jener Stoff sollte später Anni Albers‘ Fahrkarte in die USA, ans neugegründete Black Mountain College, werden, als sie 1933 als Jüdin in Deutschland nicht länger sicher war.


Anni Albers gehörte zur Berliner Verlagsfamilie Ullstein. 1922 kam sie ans Staatliche Bauhaus in Weimar, um Malerin zu werden. Als das Bauhaus 1925 nach Dessau umzog, wechselte auch sie nach Sachsen-Anhalt. Mittlerweile hatte sie gemeinsam mit ihren Kommilitoninnen Gunta Stölzl und Benita Otte die Webereiklasse am Bauhaus aufgebaut – und diese mit eigensinnigen autodidaktischen Experimenten aus Naturmaterialien und neuartigen Fasern zum „Verkaufsschlager“ des Bauhauses gemacht. Die Stoffinnovationen der Weberinnen orientierten sich an dem Bedürfnis und der Funktionalität der zukünftigen Besitzer – quasi analog zu den Architekturentwürfen der Bauklasse. So wie die Architekturstudenten Analysen zur Planung von Bauwerken in Diagramme und Grafiken übersetzten, wurde das Weben am Bauhaus unter Hannes Meyers Direktorat von 1928 bis 1930 ebenso verwissenschaftlicht. An Anni Albers‘ Diplomarbeit lässt sich das besonders gut nachvollziehen.

Vorgegeben waren also diese Parameter: Schalldämmung und Lichtreflexion, um die Aula der Bundesschule insgesamt zu optimieren. Da keine Aufzeichnungen zur Entwicklung des Stoffes erhalten sind, wäre es reine Spekulation nachzuzeichnen, wie genau Anni Albers in ihrer Diplomarbeit vorging. Sehr wahrscheinlich experimentierte sie aber, wie am Bauhaus üblich, mit unterschiedlichen Fasern und in verschiedenen Kombinationen und Webstärken, bis sie die ideale Zusammensetzung für ihren Stoff gefunden hatte, der die Vorgaben bestmöglich erfüllte. Anhand der noch heute erhaltenen Stoffmusterproben (kleine Stoffstücke von etwa 10 x 10 bis 10 x 20 Zentimeter Größe, jeweils in The Josef & Anni Albers Foundation, MoMA, TextielMuseum Tilburg, Stiftung Bauhaus Dessau und Bauhaus-Archiv Berlin) ist jedoch deutlich erkennbar, wie die Weberin unterschiedliche Fasern miteinander vereinte und so einen vollkommen neuen Effekt erschuf: Auf einer Seite benutzte sie wattig-weiche Chenille, die den Schall an der Wand abfedern sollte. In Richtung Innenraum verwob sie schwarzen Baumwollfaden mit transparenten Zellophanfäden in unterschiedlicher Webintensität, wodurch eine wellenförmige Struktur entstand. Der aus dieser Kombination entstandene Stoff glänzt metallisch, was ihm seinen Beinamen „Silberstoff“ verlieh, obwohl er – wie manchmal irrtümlich angenommen – keine metallischen Garne enthält.
 

Zur Auskleidung der Aula bestellte der ADGB 300 Meter des eigens für diesen Zweck entwickelten Wandbehangstoffes von Anni Albers beim Bauhaus für zehn Reichsmark pro laufendem Meter, also 3.000 Reichsmark insgesamt. Der Stoff sollte beinah den gesamten Raum auskleiden. Einen Meter breite Stoffbahnen wurden auf Holzleisten senkrecht nebeneinander fixiert und vermutlich zusätzlich per Hand an den Stoffkanten miteinander vernäht. Die Stoffbahnen waren jeweils drei Meter lang und stießen an eine Vertäfelung aus Gabunsperrholz (ein damals übliches und günstiges Baumaterial), die sich, analog zum Wandbehang, rund um die Aula zog und ebenso im Speisesaal, in den Türen und in den Wohnzimmern der Lehrerhäuser wiederfindet. Länge und Breite der Stoffbahnen ergaben sich vermutlich aus den Abmaßen der am Bauhaus gebräuchlichen Webstühle.
 

Der Effekt, den die 300 Meter Silberstoffauskleidung bewirkt hat, muss ein ganz beträchtlicher gewesen sein: ein silberschimmernder Wandbehang, der die gesamte Aula zum Leuchten brachte und gleichzeitig die Lärmübertragung aus den umliegenden Räumen (Speisesaal und Foyer) geschickt abfing. Die gerichtete Beeinflussung von Licht durch einen Stoff war 1929 eine echte Novität. Der Kamerahersteller Zeiss Ikon führte mit dem Silberstoff Tests durch und attestierte Anni Albers dessen nun nachgewiesene reflektorische Fähigkeit. Ein Foto des Stoffes samt Zertifikat fehlt bis heute in kaum einer der zahlreichen internationalen Publikationen über das Bauhaus – und steht als Musterbeispiel für die zahlreichen neuartigen Möbel- und Raumstoffe, die die Bauhaus-Weberei hervorgebracht hat.

Der Vollständigkeit halber muss hier hinzugefügt werden, dass neben Anni Albers eine Vielzahl anderer Weberinnen am Bauhaus vergleichbare Stoffinnovationen entworfen haben, darunter Gunta Stölzl (beispielsweise entwarf sie einen Stoff mit Waffelstruktur aus Zellophan und Baumwolle für das Kino Urban in Berlin) und Otti Berger (mehrere patentierte abwaschbare Möbelstoffe). Ihre Vorgehensweisen verschriftlichten und veröffentlichten sie größtenteils in Zeitschriften, um dem Image der Weberei die alten Zöpfe abzuschneiden und ihr ein modernes Gesicht zu verleihen.
 

Anni Albers‘ Wandbehangstoff hing noch bis in die frühen 1950er-Jahre hinein – wenn auch schon stark zerschlissen – an den Wänden der Aula. Mit den Bestrebungen des damaligen Besitzers der Schule, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), die Schulen zu einer Hochschule der Gewerkschaften weiterzuentwickeln und dem hiermit verbundenen wachsenden Platzmangel in dem für 120 Teilnehmer geplanten Gebäude, wurde die Aula zugunsten der Erweiterungen von Speisesaal, Küche und Garderobe aufgelöst. Erst mit der Sanierung der Bundesschule 2002 bis 2007 wurde die Aula wieder teilrekonstruiert. Die Feinsanierung, wie sie bereits in den meisten Räumen abgeschlossen ist, steht hier noch aus. Hierzu gehört sowohl der Silberstoff als auch die Holzvertäfelung, beides ist bisher lediglich farblich markiert und vorgemerkt. Das Gesamtbild der Aula – ein eigentlich von Licht erfüllter Raum mit verbesserter Akustik –, das momentan noch geboten wird, ist ein ganz anderes; es zeigt einen tristen Ort, an dem sich der Besucher fragen muss, warum die Sanierung ausgerechnet hier Halt gemacht hatte.
 

Mittlerweile hat The Josef & Anni Albers Foundation das niederländische Jongeriuslab mit Sitz in Berlin (also unweit der heutigen UNESCO-Welterbestätte) mit der Rekonstruktion des Silberstoffes beauftragt. Ihre jahrelangen Bauhaus-Recherchen und Materialexperimente haben sich gelohnt: Der vom Jongeriuslab entwickelte Stoff sieht dem von Anni Albers verblüffend ähnlich. Und ein Stoffmuster in größerem Ausmaß als die kleinen erhaltenen Silberstoffmuster lässt bereits eine Vorstellung davon zu, welch faszinierende Wirkung der Stoff auf den gesamten Aularaum haben würde. Natürlich sind die heutigen Ansprüche an Schalldämmung und Lichtreflexion nicht mehr die von 1930, sondern sind durch neue Techniken und Möglichkeiten bei Weitem gestiegen. Und auch neue Anforderungen wie Brandschutz spielen heute eine übergeordnete Rolle in der Ausstattung von öffentlichen Räumen.
 

Was bleibt, ist die Neugierde darauf, wie modern und strahlend die Aula wohl einmal ausgesehen hat und wie viel besser die Akustik wohl mit Silberstoff und Gabunholzplatten wäre. An einigen Orten der heutigen UNESCO-Welterbestätte lässt sich das bereits nach der umfangreichen Sanierung ganz wunderbar wieder nachvollziehen: im Glasgang, Speisesaal, Wintergarten, in der Turnhalle und den Seminarräumen. Und auch die Frage danach, wie Hannes Meyers und Hans Wittwers Vision des idealen Schulbaus an diesem Ort im Gesamtbild aussah, bleibt bisher noch unerfüllt.

Gespräch mit Siska Diddens von Jongeriuslab

In der 10. Folge des Podcasts KNTXT – Bernauer Stadtgespräche erzählt Siska Diddens, Leiterin des Jongeriuslab, über den langen Weg vom Originalmuster des „Silberstoffes“ von Anni Albers zur Reproduktion heute.  DEUTSCH/ENGLISH   

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